Wir erben mehr als seine Bauten
so gesehen
Ausgabe 01.2008
architektur stadt ms (2008)
architektur stadt ms - Monatskalender für Münster, Ausgabe 01.2008 (Startnummer), Cover

architektur stadt ms - Monatskalender für Münster, Ausgabe 01.2008 (Startnummer), Cover

Mit dem neuen Jahr endete ein großes Leben: Harald Deilmann verstarb 87-jährig in der Neujahrsnacht. Hineingewachsen in eine unberechenbare Zeit, gelangte er am Ende des Zweiten Weltkriegs in ein Kriegsgefangenencamp in den USA. In weiter Landschaft von Stacheldraht umzäumt, begann er zusammen mit Mitgefangenen erste Architekturstudien, die er zurück in Deutschland an der TH Stuttgart u.a. bei Rolf Gutbrod, Günter Wilhelm und Richard Döcker fortsetzte.

Münster als Stadt seiner späten Jugend glich einem Ruinenfeld. Als die Stadtväter begannen, die Altstadt in Anlehnung an ihre überlieferte Form aufzubauen, wurde Deilmann unruhig. Er fühlte sich einem moderneren Stadtverständnis verpflichtet. Nicht utopisch oder revolutionär sollte die Stadt sein, aber evolutionär ihr Erbe durch neue Einflüsse weiterentwickeln können. Mit dem weltweit beachteten Theaterprojekt, das er zusammen mit Max von Hausen, Ortwin Rave und Werner Ruhnau entwarf, lieferte er erstes Anschauungsmaterial seines architektonischen Denkens.

Zahlreiche Wohnhäuser, insbesondere in Münster und im Münsterland, folgten, die lässig den freien Raum zelebrieren, souverän komponiert sind und noch immer inspirieren. Neben der Baupraxis nutzte er seine langjährige Hochschultätigkeit in Stuttgart und Dortmund für weitere Forschungen. Im Wohnungsbau entwickelte er Grundrisse, für Verwaltungsbauten neue Typologien im Spannungsfeld zwischen Konstanten und dem Neuen. Kliniken, Schulen, Kirchen folgten ebenso als Bauaufgaben.

Kaum ein Büro in Deutschland war so vielseitig tätig wie das von Harald Deilmann. Zu den wichtigsten seiner rund 200 Projekte, die sein Büro allein für Münster entwickelte, zählen neben dem Theater, Nordwest Lotto (1960), Stadthaus II (1964), Volkswohlbund (1967), LBS (1969–75), Commerzbank (1974), Allwetterzoo (1974), St. Michael (1970), St. Anna (1974), Stuhlmacher (1980), Karstadt (1986), Justizzentrum (1990).

Wenn Harald Deilmann nun die Bühne der Akteure verläßt, so bleibt aber die Erinnerung an ein Zoon Politikon, einen ganzheitlich denkenden Architekten, der sich seinem Fach in vielfältigster Weise verschrieben hatte. Ob in Vorträgen, Diskussionen oder Preisgerichten, ob als Architekt oder Lehrer: Er war darauf aus, die „Gestalt“ unserer Welt zu finden. Der Unzufriedenheit und Resignation, setzte er stets Entschlossenheit, Mut und Phantasie entgegen – Eigenschaften, die wir auch zukünftig in Münster brauchen. Seine Bauten bleiben, auch als Erinnerung an Harald Deilmanns Anspruch, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Dazu bedarf es der kritischen Reflexion und öffentlichen Debatte. Als Bündelung der vielfältigen Veranstaltungsformate zur Entwicklung des Gesichts unserer Stadt ist „architektur stadt ms“ diesem Gedanken verpflichtet.

 

Stefan Rethfeld / Jan Rinke