In diesen Tagen hält uns der Schnee in Atem. Und da, wo wir nicht auf Verkehr via Bahn, Straße oder Luft angewiesen sind, verzaubert er. Er bedeckt die Stadtstruktur, verwandelt Straßen und Häuser – und reduziert den Stadtkörper zu einem weißen, lautlosen Bild.
Auch drosselt er das Tempo. Das Zufußgehen erweist sich plötzlich wieder als Königsdisziplin. Der Alltag findet für viele nur noch in Zeitlupe statt. Kein politisches Gesetz, keine noch so angesagte Kampagne ( z.B. »Kopf an: Motor aus« – Deutschlands erste Kampagne des Bundesumweltministeriums für Fuß- und Radver-kehr ) hat ein ähnliches Vermögen, die Geschwindigkeit einer Stadt in diesem Maß zurückzufahren.
Es ist, als ob die Stadt des 21. Jahrhunderts sich für ein paar weiße Tage und Nächte in eine Stadt des 19. Jahrhunderts zurückverwandelt. Viele Details, die sonst nur vorbeirauschen, werden wieder wichtig: Sitzbänke, Geländer, Laternen, Treppenstufen, Mauern, Eingangstüren. Plötzlich ist Zeit da, für die feinen Details und Linien der Umgebung, das Astwerk der Bäume eingeschlossen. Alles wirkt aufgefrischt, klar und präsent.
Auch erfahren wir viel über Besucherströme, Spaziergangskurven und Abzweigungen. Die Schneedecke speichert die Frequenz der Schuhsohlen. Wir können erkennen, wo der Wintermensch seinen Weg durch intelligente Trampelpfade optimiert. Und wir sehen, wo sich Menschen versammelt haben, wo sie zu zweit gingen, wo alleine oder über welche Fläche sich niemand traut. Der Stadtboden mit seinen Spuren lässt sich nahezu lesen wie ein Roman. Eigentlich müsste es Stadtplanern und Architekten zur Pflicht gemacht werden, die Stadt im Winterlicht aufzumessen. Sie würden einiges mehr erfahren.
Denn was die Winterzeit auf die Probe stellt, ist den puren städtische Raum und dessen unmittelbare Benutzung. Die aktuellen »Slow City«-Erfahrungen liefern eine gute Einstimmung für den nächsten Denkraum-Abend ( s. ka- lender 27. 1. ) zum Thema: Wahrnehmung.
Zu Grunde liegt die Neugier, wie sich Stadtwahrnehmung in den unterschiedlichen Modi der Bewegung mit der Zeit verändert hat: einen Einblick in die durch den Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt begründete Spaziergangswissenschaft wird der Berliner Verleger Martin Schmitz geben. Der Baseler Kunsthistoriker Martino Stierli wird sich der Autogeschwindigkeit am Beispiel Las Vegas widmen und mit Brigitte Franzen, Kuratorin der skulptur projekte 07, werden wir gedanklich durch Mikrolandschaften reisen.
Wie verändert Google Street View heute unsere Vorstellung vom Stadtraum? Und wie Navigationsgeräte, die dazu führen, dass wir uns immer besser zurechtfinden, aber immer weniger erkennen und sehen? Die Diskussion findet übrigens direkt am Münster Modell statt, das erstmals nach Monaten wieder ausgestellt wird – in der Stadthausgalerie ( 18. 1. – 27. 2. ). Es zeigt Münster abstrakt und weiß: nahezu in der Anmutung einer Stadt unter Schnee.
Stefan Rethfeld