1960/70er: Die nahe Vergangenheit
so gesehen
Ausgabe 02.2011
architektur stadt ms (2011)
Auch ein Abrisskandidat: Oberfinanzdirektion Münster (Hentrich, Petschnigg & Partner, 1966-69). Foto: Stefan Rethfeld

Auch ein Abrisskandidat: Oberfinanzdirektion Münster (Hentrich, Petschnigg & Partner, 1966-69). Foto: Stefan Rethfeld

Während die 1950er-Jahre-Bauten in der der Fachwelt seit spätestens 1990 von der Denkmalpflege erforscht werden, gestaltet sich die Bewertung und Unterschutzstellung von Bauten der 1960/70er-Jahre indes schwierig. Zu uneinheitlich ihre Einflüsse und Strömungen, zu vielgestaltig ihr Hintergrund, zu groß die Bandbreite ihrer Programme, zu mannigfaltig ihr Vorgehen in Städtebau und Konstruktion.

Erst langsam tasten wir uns heran, auch durch zahlreiche Forschungsprojekte der Hochschulen. Doch für viele Bauten dürfte dies zu spät sein: sie werden gerade jetzt abgerissen. Und es wirkt komisch, dass man selbst als junger Mensch diese somit überlebt: vom Erweiterungsbau Landesmuseum (1972) und Deutscher Bank (1965 ) existieren nur noch Erinnerungsbilder, und die Tage der kühnen Oberfinanzdirektion (s. Cover) oder des Arnold-Janssen-Kollegs (s. asms 10/10) scheinen gezählt.

Gerade mit diesen Bauten erfand sich aber das Oberzentrum Münster nach dem Krieg nochmal neu – vorbei. »Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön?«, fragte der Schriftsteller Martin Mosebach jüngst ( FAZ v. 28.6.10) in einem bemerkenswerten Text, der diese Debatte bundesweit besonders anheizte: »Wie konnte die europäische Menschheit eine ihrer hervorstechendsten Begabungen verlieren: das Städte- und Häuserbauen? ( … ) Die Zeugnisse der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre – ein Crescendo des Schreckens – sämtlich wieder auszulöschen.«

Ja, in vielen Punkten gelingt es Mosebach tatsächlich, wichtige Grundlagen für eine gelungene Stadtgestalt zu benennen. Nur ist zu fragen, wie sich eine gewandelte Zeit mit diesen Prinzipien arrangieren kann. Gerade die Nachkriegsmoderne stand in der jungen Bundesrepublik vor der Aufgabe, neue Infrastrukturen in kurzer Zeit zu erschaffen: vor allem Wohnraum wurde benötigt, dazu Kirchen und Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, Banken und Versicherungen, Rathäuser und Bürgerzentren bis hin zu Fernsehtürmen.

Eine Baumasse ohnegleichen entstand – mitnichten durchgängig von höchstem, schützenswerten Niveau. Doch wer offenen Auges diese betrachtet, wird eine Reihe von eigenständigen Bauwerken entdecken können, die zu völlig neuen Raumkategorien vorstoßen.

Auch gibt es zahlreiche Projekte, wo moderne und traditionelle Ansätze aufs Kühnste vereint sind (u.a. Stadttheater, die Giebelhäuser Volkswohlbund oder Rincklake van Endert, Rothenburg).

Dem wiederaufgebauten Münster, einer Stadt, in der 80 Prozent der Bauten jünger als 60 Jahre sind, würde ohne die Nachkriegsmoderne etwas Entscheidendes fehlen. In der Reihe »Denkräume« am 18. Februar wird genau dieses verhandelt. Wofür steht diese Architekturepoche, wie kann ein situativer Umgang mit ihr gelingen? Eine höchst spannende Diskussion, zudem an be sonderer Stelle: im Kleinen Haus, das dieses Jahr selbst noch seinen 40. Geburtstag feiern wird.

 

Stefan Rethfeld