Vom Kopf auf die Füße
Eine Konferenz diskutiert Wege aus der Krise des Städtebaus
27.3.2012
Süddeutsche Zeitung (2012)
biq architecten: CPO Hooidrift Rotterdam - Foto: biq architecten

biq architecten: CPO Hooidrift Rotterdam - Foto: biq architecten

Das Unbehagen ist groß. Architekten, Stadtplaner, Denkmalpfleger und Kulturwissenschaftler leiden am Zustand der deutschen Architektur und noch viel mehr: Sie sehen den heutigen Städtebau in der Krise. Überall Wegwerf-Architektur, unsinnliche Stadträume, ausufernde Ränder. Die Kunst des Städtebauens, gerade auch die der Alltagsarchitektur, scheint verloren gegangen zu sein. Am liebsten würden deswegen viele aufräumen: mit dem Objektwahn in der Architektur oder der Innovation als Freifahrtschein für die unseeligsten Entwürfe.

Die passende Veranstaltung zum architektonischen Ingrimm fand jüngst in der Düsseldorfer Rheingoldhalle statt: die Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt. Zum dritten Mal diskutierten hier, eingeladen vom Deutschen Institut für Stadtbaukunst, das Christoph Mäckler und Wolfgang Sonne 2009 an der TU Dortmund angesiedelt haben, Experten aus Architektur, Stadtplanung und Stadtpolitik. Sie nahmen sich die Universalfragen der Stadtarchitektur schlechthin vor: In welchem Verhältnis stehen Stadt und Architektur? Wieviel Überlieferung und Neuerung sind für ihre Entwicklung notwendig? Oder, wie es Sonne formulierte: Wie können die Städte in Deutschland wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden?

 

Für mehr Geschlossenheit und Einheitlichkeit

Ihren Frieden wollten die meisten Teilnehmer weder mit der Moderne noch mit der Nachkriegsmoderne schließen. Erst die Architekturwelt weit zuvor gefällt. Es sind die Städte des Mittelalters mit ihren Schichten und Erweiterungen bis 1900, deren Erscheinung seit dreißig Jahren unter dem Begriff der Europäischen Stadt subsumiert wird. Viel ließe sich von ihr lernen: Ob die Parzelle, das Ensemble oder der regionale Bezug – das Vorbild liefere Mittel, die den Städten auch heute wieder mehr Geschlossenheit und Einheitlichkeit geben könnten.

So sehr diese Erbe auch vom Gros der Teilnehmer geschätzt wurde, so uneinig war man sich, wie Städte heute mit diesem Wissen aktualisiert werden könnten. Engelbert Lütke-Daldrup, lange Zeit in Berlin, Leipzig und im Bundesbauministerium für Stadtentwicklungsfragen verantwortlich, verwies darauf, dass im Gegensatz zum prosperierenden 19. Jahrhundert heute Stadtumbaufragen die Entwicklung bestimmen. Über 40 Millionen Bestandswohnungen würden nur rund 200.000 neuen Wohneinheiten jährlich gegenüberstehen. Die reale Stadt ist daher nur als Umbaustadt zu begreifen.

Sigurd Trommer, ehemals oberster Stadtplaner in Bonn und seit kurzem Präsident der Bundesarchitektenkammer, mahnte nach den vergangenen Leitwerten Industrie und Information nunmehr Energie und Mobilität als neues Gründermotto an: Wie umgehen mit dem jüngsten Erbe der fünfziger bis siebziger Jahre, wie den Bestand optimieren, die Verkehrstraßen umbauen? Auch der oberste Hamburger Stadtplaner Jörn Walter gab zwei wichtige historische Veränderungen zu bedenken: ein gigantisches juristisches System, das den Stadtumbau in großem Maß erschwere, und ein weit fortgeschrittener Demokratisierungsprozess in der Planung.

 

Frische Parzellenarchitektur und einfühlsame Alltagsbauten

Für Auffrischung in der Konferenztheorie sorgten zwei Architekturbüros aus Rotterdam: Nathalie de Vries von MVRDV und Hans van der Heijden von biq stadsontwerp belegten mit Beispielen von frischer Parzellenarchitektur und einfühlsamen Alltagsbauten, dass die in Deutschland diskutierten Wiedersprüche doch auflösbar sind.

Am Ende spitzte der Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani das kulturelle Verlangen zu: Am liebsten würde er jeder Stadt wieder einen obersten Architekten zur Seite stellen – als Regisseur. Es müßte jedoch ein sehr dialogfähiger sein. Selten hat man Architekten und Stadtplaner so schonungslos über ihre eigene Vergangenheit klagen hören. Einig waren sich allein alle, dass die lokale Vermittlungsarbeit gestärkt werden müsse. Denn hier wird Tag für Tag weiter gebaut.

 

Stefan Rethfeld

Zum Artikel: www.sueddeutsche.de