Fahrradland NL – Fahrradstadt MS
so gesehen
Ausgabe 03.2012
architektur stadt ms (2012)
Kunstprojekt "Katzenaugen" von Luzia-Maria Derks, Radstadtion am Hauptbahnhof Münster, 2008. Foto: David Moseley

Kunstprojekt "Katzenaugen" von Luzia-Maria Derks, Radstadtion am Hauptbahnhof Münster, 2008. Foto: David Moseley

Nicht selten wird Münster als die niederländischte Stadt außerhalb der Niederlande tituliert. In vielem blitzt die benachbarte Kultur auf: Giebelarchitektur, Backsteinkunst, Kaufmannsgeist. Für wahr: Politik, Kultur und Geschichte sind vielfältig verwoben, der Friedenssaal gilt bekanntlich gar als Kreißsaal des benachbarten Königsreiches.

Und auch heute unterstreichen Institutionen wie das Zentrum für Niederlande-Studien im Krameramtshaus, das Hauptquartier des 1. Deutsch-Niederländische Korps, ein Niederländisches Honorarkonsulat die enge Verbundenheit. Doch weitaus mehr als alle Institutionen vermag vor allem ein Alltagsphänomen das Gemeinsame zu illustrieren: die Kultur des Fahrradfahrens.

Ob für die Fahrradnation Niederlande oder die Fahrradstadt Münster: sie stellt ein konstituierendes Element der jeweiligen Identität dar. So durfte man besonders auf einen jüngst gehaltenen Vortrag der Historikerin Anne-Katrin Ebert gespannt sein, die in erfrischender Weise aus ihrem Buch Radelnde Nationen: Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940 referierte.

Eingebettet zwischen Nationenforschung und Konsumgeschichte schilderte sie das Rad hierbei nicht nur als Transportmittel, sondern auch als Mittel der Identitätsstiftung und sozialer Unterscheidungsmechanismen.

Besonders gelang es ihr hierbei, das Fahrrad in seinen Anfängen ab 1880 gar als Charakterbildungsmaschine zu deuten: Anders als Auto und Eisenbahn vermochte das Rad nunmehr Geist wie Körper zu erfassen, und forderte den Lenker heraus, von einem statischen in ein dynamisches Gleichgewicht zu wechseln. Mit einem Mal war ein jeder selbst verantwortlich für Antrieb und Steuerung – und konnte beglückend seine eigene Leistung erfahren.

Das Zweirad stellte somit ein willkommenes Vehikel dar, eine Gesellschaft zu modernisieren. Günstige Rahmenbedingungen, wie eine flache Landschaft, eine enges Netz an Städten und Gemeinden führten sodann in den Niederlanden zu einem zügigen Wegenetzbau vor allem in der Zeit des 1. Weltkrieges, dem sich die »besonnene Nation« verweigerte. Schließlich galt es, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, sich keinem überzogenen Gedankengut hinzugeben und Selbstvergewisserung aus der Schönheit des eigenen Landes zu gewinnen.

Am Wegesrand der über 100-jährigen Entwicklungsgeschichte des Fahrradfahrens liegen zahlreiche unterhalt- same Stichwörter: Fahrradsteuer, Nummernschild, Sicherheitskleidung, Fußgängerproteste oder Fahrbahnkonkurrenz, die auch heute noch so manchen Leserbriefschreiber bewegen.

Kurzum: Wer das Buch liest, wird das Fahrrad fortan anders erfahren: es weitet den Blick über den Lenker. Der Frühling kann kommen.

 

Stefan Rethfeld