Die nahe Vergangenheit wird wieder modern: Im Osten überraschend viele ambitionierte Bauten der DDR-Zeit, im Westen die Bauten einer jungen Bundesrepublik. Die Neugier auf Architektur der 1960er und 1970er Jahre ist gerade bei jenen groß, die gleichaltrig sind. Eine jüngere Generation von Kulturschaffenden wirbt vielerorts für neue Sichtweisen.
Beispielhaft: Initiative Zwischen Palast Nutzung in Berlin
Sie kann als erste öffentliche Großinitiative für ein Siebziger-Jahre-Gebäude in Deutschland gelten: die Zwischen Palast Nutzung. Drei Wörter standen vor nunmehr zehn Jahren programmatisch für die Wiedereröffnung eines umstrittenen Gebäudes: des Palastes der Republik in der Mitte Berlins. Dreizehn Jahre nach seiner Eröffnung 1976 wurde er im Einheitsjahr 1990 kurzerhand geschlossen, weitere dreizehn Jahre später als „Volkspalast“ für mehrwöchige Veranstaltungen im Zeitraum 2003 bis 2005 wiedereröffnet. Ein Kreis junger Architekten, Theatermacher und Kulturwissenschaftler (www.zwischenpalastnutzung.de) machte sich seinerzeit auf, Ort und Bauwerk wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rufen, und initiierte künstlerische Projekte zur Neuerkundung. Über 916 Veranstaltungen mit mehr als 550.000 Zuschauern standen im Rückblick auf dem Programm – ein großer Überraschungserfolg. Dennoch – vor dem Abriss konnte er bekanntlich nicht gerettet werden, ein Schlossbau drängte.
Und doch veranschaulicht diese Initiative Merkmale, die bei aller Spezifik auch auf andere Projekte übertragbar sind: Die Kampagne ging von jüngeren Kulturschaffenden aus (nach 1965 geboren), der Denkmalwert war politisch umstritten, die Fachwelt hielt weitgehend Erhalt und Weiterentwicklung für geboten, die Initiativarbeit erfolgte durch verstärkte Medienarbeit, Beurteilungen und Meinungsbilder mussten durch neue Sichtweisen ergänzt werden, Veranstaltungen entstanden in ungewöhnlichen Formaten und Kooperationen, Genehmigungen erfolgten anfänglich bei unklaren Zuständigkeiten gegen behördlichen oder politischen Widerstand, im Verlauf sodann auch in Partnerschaft.
Bauten der Boomjahrzehnte lohnen genauen Blick
Dieses Beispiel hilft mitunter, sich der aktuellen Herausforderung zu stellen, Bauten der 1960er und 1970er-Jahre gerade auch in der alten Bundesrepublik zu beleuchten. Projekte, die kleinräumiger, bisweilen, lokaler wirken, weniger idiologisch aufgeladen sind, symbolisch wie politisch leichter wiegen. Und doch: Die Bauten der Boomjahrzehnte, auch sie lohnen den genauen Blick, stellen sie doch oftmals Neuerungen dar, in wiederaufgebauten Städten, in neueingerichteten Ländern und einer seinerzeit neu startenden Republik.
Es stehen Bauten im Fokus, die nach dem Wiederaufbau als neue Aufgaben auf eine ausgehungerte Architektengeneration warteten: Wohnhäuser und -siedlungen, Banken und Versicherungen, Flughäfen und Fernsehtürme, Kauf- und Krankenhäuser, Museen, Theater und Kirchen, Hotels, Kindergärten, Schulen und Universitäten und jede Menge Rathäuser in vielen neugegliederten Stadtlandschaften. Um es vorwegzunehmen: Das Wichtigste, was es zu sichern gilt, ist der den Bauten innewohnende „spirit“, ihr „Geist“.
Die Architekten kannten unsere heutigen Lebensbedingungen noch nicht, sie konnten sie nur erahnen. Viele Funktionen mussten ja erstmals erfunden werden. Und so lohnt es, das Geschehen stets von vorne in den Blick zu nehmen, aus der Sicht eines erwartungsvollen Beginns – gleich einem Schachspiel nach allerersten Zügen.
Beschäftigung mit Architektenbiographien
Wer sich mit den Bauten heute beschäftigt, muss sich auch mit ihren Architekten beschäftigen. Es waren junge Architekten, zumeist in den Zwischenkriegsjahren nach 1918 geboren. Sie verbrachten vielfach nahezu ein ganzes Jahrzehnt im Krieg einschließlich langer Gefangenschaft in wirren Zeiten. Sie dürsteten ab 1945 nach neuen Grundsätzen, nach Freiheit und Verantwortung, und daraus resultierend nach neuen Aufgaben und gesellschaftlicher Teilhabe an einem Neuaufbau. In ihrer Rolle verstanden sie sich als Autoren für neue Orte, als Regisseure für Möglichkeitsräume, als Vorausdenker, als Ideengeber, als Miterfinder für eine neue Gesellschaft.
Und wer konnte tatsächlich den Fortschritt schöner verbildlichen als jene Architekten? Wer neue politische Ziele, ob im Wohnungs-, Rathaus- oder Hochschulbau, so ins Licht setzen wie jene Gestalter?
Viele Bürger bewohnten ab den später 1950er-Jahren somit nicht nur moderne Grundrisse, sie erhielten auch ebensolche Arbeitswelten, Straßen und Möbel. Kurzum: Vielfach war der Fortschritt im Alltag erlebbar – und lange Jahre galt diese prosperierende Entwicklung als positiv. Sie setzte neue Standards. Eine heutige Gesellschaft, zwei Generationen später, kann sich in diese Erneuerungsfreude nur noch mit Mühe hineindenken, gilt doch vieles als verfügbar und selbstverständlich.
Bauen in einem utopiereichen Umfeld
Die Bauten der 1960er und 1970er Jahre wurde in einem utopiereichen Umfeld entwickelt und wirken wie aus einer fernen Zeit. Nur selten zuvor galt es in jüngerer Zeit, die rasante Geschwindigkeit von Bommjahrzehnten so radikal abzubremsen und nun neu zu verankern in einem Umfeld der hohen, öffentlichen Verschuldung. Jedes Einzelgebäude ist heute mit einer harten pragmatischen Realität konfrontiert, die Effizienz und Rationalität vielfach als höchste Werte setzt und der Poesie, dem Experiment oder einer unkonventionellen Architektur wenig Raum bietet. Die Bauten stellen daher für Eigentümer und Architekten, Politik und Verwaltung, für Forscher und Denkmalpfleger – und für die Bürger – eine große Herausforderung dar.
Während Bauten der 1950er Jahre in der Fachwelt seit spätestens 1985 von der Denkmalpflege erforscht wurden, gestaltet sich die Bewertung und Unterschutzstellung von Bauten der 1960er und 1970er Jahre indes schwierig. Zu uneinheitlich sind ihre Einflüsse und Strömungen, zu vielgestaltig ihr oftmals internationaler Hintergrund, zu groß die Bandbreite ihrer Programme, zu mannigfaltig ihr Vorgehen in Konstruktion und Städtebau. Und vor allem: Zu groß auch ihre Anzahl ! Immerhin verfügen die meisten Groß- und Kleinstädte der Bundesrepublik über einen Gebäudebestand, dessen Bauten zu 80 Prozent jünger als 60 Jahre sind.
Überblick verschaffen: Stadt – Region – Land
Wichtig wird es daher sein, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen: Stadt für Stadt, Region für Region, Land für Land. Zuständige Denkmalbehörden sind hierbei jedoch vielfach überfordert und bei knappem Personal im Tagesgeschäft mit aktuellen Projekten ausgelastet. Zuarbeit von außen, durch Forscherteams an Hochschulen, private Initiativen oder spezialisierte Büros – wie auch immer gestaltet – könnte eine willkommene Entlastung sein.
Es wird daher vielerorts ratsam sein, die Synergie von Ressourcen und Ressorts zu nutzen, also neue Partnerschaften und Kooperationen zu probieren. Oder genauer: für Zusammenarbeit verschiedener Akteure, gerade auch auf lokaler Ebene, zu werben.
Auch muss es darum gehen, ergänzend zur Politik und Verwaltung, neu sich gründende Initiativen und Vereine zu stärken sowie ein Themennetzwerk zwischen vorhandenen Kulturinstitutionen wie Theater, Museen und Archiven, Verbänden und Kammern, Wissenschaft und Medien zu knüpfen. Bei der Tagung „Klötze und Plätze“ des BHU knüpfen wir an diesem Netzwerk und nutzen eine wichtige Plattform.
Vermittlung als Aufgabe
Sich für Bauten der 1960er und 1970er Jahre zu engagieren, heißt vor allem: Zu vermitteln. Zwischen Generationen, zwischen Zeitschichten, zwischen gesellschaftlichen Umständen. Wir brauchen diese Bauten, schlicht um unsere jüngere Entwicklung zu verstehen. Und wir brauchen die Auseinandersetzung, den Disput: Was ist es wert, weitergegeben zu werden? Was soll als Erbe den nächsten Generationen überliefert werden?
Eine grundlegende Auseinandersetzung wird auch nötig sein, denn vielfach unterliegt diese Zeitschicht großen Vorurteilen und wird von Politikern, Bürgern wie Publizisten scharf kritisiert.
„Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön?“, fragte beispielsweise der Schriftsteller Martin Mosebach in einem jüngeren Zeitunsbeitrag (FAZ v. 10.6.2010): „Wie konnte die europäische Menschheit eine ihrer hervorstechensten Begabungen verlieren: das Städte- und Häuserbauen? (…) Die Zeugnisse der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre – ein Crescendo des Schreckens – (sind) sämtlich wieder auszulöschen.“
Auch plädierten selbst Protagonisten dieser Zeit wie der Architekt Harald Deilmann (1920-2008) angesichts des Nachkriegswohnungsbaus für Abbruch: „Wir müssen tun, was früher Kriege besorgt haben. Zu allen Zeiten ist Besseres an die Stelle von Überholtem gesetzt worden. Sollten wir auch unsere Fehler unter Denkmalschutz stellen? Es geht doch nicht um Dokumentation. Die jetzt lebenden Menschen haben Anspruch auf eine Lebensumwelt, die dem Stand unserer heutigen Erkenntnisse entspricht“, so Harald Deilmann 1985 auf dem Deutschen Architektentag.
Die Bauten der 1960er und 1970er Jahre bedürfen in vielen Fällen der Erkundung und Vermittlung, in Form von Besichtigungen, Führungen, Berichten, Zeitzeugen-Gesprächen und Ausstellungen: Projekte wie „restmodern.de“ von Oliver Elser oder das Kölner Projekt von Merlin Bauer „Liebe Deine Stadt“ können hier als Vorreiter genannt werden.
Am Beispiel: Münster
Als Beispielsort sei auch Münster genannt, eine Stadt, in der ich seit einigen Jahren tätig bin: Hier ist es gelungen, eine ganze Reihe von Projekten in stets neuen Kooperationen zu realisieren, die der Architekturvermittlung dienen: in Buchform erschien 2008 ein Architekturführer (Hänsel/Rethfeld 2008), ein Stadtmodell der Initiative Münster Modell e.V. im Maßstab 1:500 wächst mit der Unterstützung von Bürgern, Institutionen und Unternehmen (derzeit wird ein dauerhafter Ausstellungsort konzipiert), monatliche „Münster vor Ort“-Touren laden die Bürger ein zur Erkundung verschiedener Innenstadt-Viertel, ein monatlicher Architekturkalender (www.architekturstadt.ms) informiert über Termine und kommentiert das aktuelle Baugeschehen. Auch wurden Einzelgebäude im Rahmen von Jubiläumsveranstaltungen besonders beleuchtet: „50 Jahre Stadttheater 1956-2006“ (Architekten: Harald Deilmann, Max von Hausen, Ortwin Rave und Werner Ruhnau), „40 Jahre Kleines Haus 1971-2011“ (Architekten: Max von Hausen, Ortwin Rave und Werner Ruhnau) oder in der Reihe „Junges Erbe: Architektur der 1960/70er-Jahre in Münster“ als Auftaktveranstaltung „40 Jahre Großsiedlung Berg Fidel“ (Architekt: Jochen Kuhn).
Sorgen wir dafür, dass die Neugierde hier und an vielen anderen Orten weiter zunimmt, auf eine erst noch zu entdeckende Zeitschicht: Sie liegt nun abgeschlossen vor uns. Erschließen wir sie – ja, vieles will sortiert sein, vieles davon ersetzt werden, doch ingesamt wird sich der Fundus als Schatz erweisen. Achtung: Junges Erbe!
Stefan Rethfeld
Zur Publikation: BHU Dokumentation der Tagung Klötze und Plätze (2012)
Text als Vortrag gehalten auf der Tagung am 4. und 5. Juni 2012 im Rathaus Reutlingen, als Katalogbeitrag erschienen in:
Bund Heimat und Umwelt in Deutschland BHU (Hg.): Klötze und Plätze. Wege zu einem neuen Bewusstsein für Großbauten der 1960er und 1970er Jahre, Tagungsdokumentation, Bonn 2012, S. 28-32