Wenn Stein zu Stoff wird
Der Neubau des Textilverbandes in Münster
14.12.2017
domus - D (2018)
Behet Bondzio Lin: Textilverband in Münster - Foto: Andreas Secci

Behet Bondzio Lin: Textilverband in Münster - Foto: Andreas Secci

Eine „bewegte“ Ziegelfassade prägt den Neubau des Verbands der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie in Münster von behet bondzio lin. Dem Bauherrn angemessen, wirkt sie wie ein bewegtes Tuch und bringt dadurch eine spielerische Leitigkeit in ein gewöhnliches Gewerbegebiet.

 

Gebäudehaut wirkt magisch

Der rötliche Schimmer lockt schon von Weitem. Wem das Bürogebäude in dem Gewerbegebiet Loddenheide in Münster in den Blick fällt, der wird unweigerlich angezogen. Die Haut des Gebäudes wirkt magisch, hier scheint sich Stein in Stoff zu verwandeln. Das Bauwerk mit seiner ungewöhnlichen Fassade eignet sich in besonderer Weise als neue Adresse des ebenso tradierten wie ambitionierten Verbands der Textil- und Bekleidungsindustrie.

Über Jahrzehnte nutzte der Textilverband einen gediegenen 1950er-Jahre-Bau in der Innenstadt von Münster. Um sich zu vergrößern und sich gleichzeitig moderner aufzustellen, entschied sich die Organisation für einen Neubau in einem jungen Gewerbegebiet im Südosten der Stadt.

 

Experimentelle Lösung aus Stein

Das Architekturbüro behet bondzio lin (Leipzig/Münster), das im Rahmen einer Mehrfachbeauftragung 2014 den Zuschlag erhielt, staunt heute noch über die Offenheit und das Vertrauen des Bauherrn. Denn es hatte den ursprünglichen Bauherrenwunsch nach einer textilen Fassade in eine experimentelle Lösung aus Stein uminterpretiert.

Der Verband war auch bereit, ein unkonventionelles, dreigeschossiges Bürogebäude, das an drei Seiten vollständig geschlossen ist, zu bauen. Lediglich nach Nordwesten öffnet sich das Volumen mit einer verglasten Rückfassade. Hier bieten sich sowohl von den Büros als auch von den Konferenzzonen Ausblicke in einen angrenzenden Park. Die Gliederung dieser Fassade lässt die offene und veränderbare Innenstruktur des Bauwerks deutlich hervortreten. Die Eingangszone auf der Vorderseite ist lediglich durch einen Versatz markiert.

 

Parametrischer Entwurfsprozess

Das herausragende Gestaltungselement stellt die lang gestreckte, bewegte Ziegelfassade dar. Angeregt durch eine Beethoven-Statue von Max Klinger, deren leichter Faltenwurf auch aus Stein geschaffen wurde, suchten die Architekten nach einer ähnlichen Lösung für die Fassade des Neubaus: Auch diese sollte möglichst wie ein bewegtes Tuch wirken und doch aus Stein bestehen. Umgesetzt wurde sie schließlich aus 74.000 speziell angefertigten Ziegeln, deren Lage in einem parametrischen Entwurfsprozess bestimmt wurde. Zusammen mit dem Klinkerhersteller Deppe Backstein-Keramik aus Uelsen entwickelten behet bondzio lin neben einem Normalstein sechs weitere Winkelsteine, die sich stufenweise um 2,5 Grad aus der Fassade herausdrehen und so die errechnete plastische Wirkung erzeugen. Um möglichst frei zu wirken, wurde das dynamische Linienmuster über die Ecken und Ränder hinaus geführt.

Das Eingangsfoyer stellt die Verbindung zwischen Verwaltung- und Konferenzbereich her. Mit dem großen zweigeschossigen Saal kann nun dem gestiegenen Bedarf an Tagungen und Konferenzen des Verbandes Genüge getan werden. In einem großformatigen textilen Wandbild aus Filz finden sich die Farben des angrenzenden Landschaftsparks wieder. Auch die Aussenanlagen wurden landschaftsnah gestaltet – und ergänzen und erweitern die benachbarte Parkatmosphäre.

 

Eine versteckte Sehenswürdigkeit

Das Gebäudekonzept schafft es, auf sämtliche Anforderungen raffiniert zu reagieren. Dem Projekt ist anzumerken, wie ergebnisoffen und neugierig der Planungsprozess von Seiten des Bauherrn und der Architekten geführt wurde. Parametrische Verfahren werden in Zukunft sicher noch weitere komplexe Strukturen ermöglichen.

Schade nur, dass der „bewegte“ Neubau nicht noch öffentlicher und zentraler liegt – und ihn daher nicht noch mehr Menschen sehen können. So bleibt er vorerst eine versteckte Sehenswürdigkeit, von der nur Fachleute wissen.

 

Stefan Rethfeld

Zum Artikel: domus – Deutsche Ausgabe, Heft Januar/Februar 2018 „Die Stadt und der Mensch“, S. 56/57.