OFF OFD: Ungenutzte Variable
Zum Abriss der Oberfinanzdirektion Münster
2017
Koenig Books (2017)
Veranstalter: Skulptur Projekte - Kunstprojekt von Christian Odzuck
Oberfinanzdirektion Münster, Abriss 2016 - Foto: Stefan Rethfeld

Oberfinanzdirektion Münster, Abriss 2016 - Foto: Stefan Rethfeld

Ein Gebäude ist verschwunden. Das Grundstück ist leer. Für nahezu fünfzig Jahre bildete die Oberfinanzdirektion in Münster, errichtet 1966-69 von Hentrich-Petschnigg & Partner, eine Adresse für Mitarbeiter und Besucher, für Passanten und Nachbarn. Und für Architekten.

 

Großskulptur auf grüner Wiese

Wer dieses Haus einmal gesehen hatte, vergaß es nicht mehr. So kühn die Erscheinung, so fein die Details. Es überraschte mit seinem geschliffenen Körper, seinen scharfen Proportionen, seinem Schimmer. Mit seinen vorlagerten Pavillons bildete die hochaufragende Büroscheibe eine eigene funktionale und zugleich poetische Atmosphäre. Wie eine Großskulptur stand der Bau auf grüner Wiese, frei und ungezwungen, wohl komponiert.

Im Vordergrund die Pavillons mit den Sitzungssälen und der Pylon, im Hintergrund die 44 Meter hohe Büroscheibe, zweifach geknickt. Sämtliche Oberflächen waren mit Mosaikfliesen belegt. Die Geometrie der Körper konnte besonders in der Bewegung erfahren werden. So ergaben sich für den Fußgänger und Radfahrer ebenso wie für den Autofahrer unterschiedliche Bildfluchten, die das Ensemble stets dynamisch erschienen ließ. Licht und Schatten verstärkten die Szenografie ebenso wie die kontrastierenden Oberflächen. Bei Nacht wirkte das Gebäude geradezu futuristisch. Vereinzelte Fenster-Licht-Reihen und beleuchtete Pavillons, die über den Wasserbassins schwebten, steigerten diesen Eindruck.

 

Frei programmierbare Etagen

Auch im Inneren bewies das Gebäude ein starkes Formbewusstsein. Zwar fiel das Foyer mit Galerie überraschend bescheiden aus, dafür zeigten sich die Büroetagen als Raumwunder. An den jeweiligen Flurenden begannen sie mit einem einfachen Mittelflur, doch in der Mitte weitete eine Kernzone sie zur Dreibündigkeit. Diese nahm Aufzüge, Treppenhäuser und Toiletten auf und konnte durchquert werden. Durch den Doppelknick des 146 Meter langen Gebäudes ergab sich auf jeder Etage eine übersichtliche Gliederung und ein vielseitiges Korridorsystem. Jede Etage war frei programmierbar, die Zwischenwände veränderbar. In der 11. Ebene befand sich die großzügige Kantine – mit Ausblick zur Stadt oder in die weite Landschaft.

 

Nachfolger vom berühmten Dreischeibenhaus

Für die Architekten war der Bau ein weiteres Experiment nach dem berühmten Thyssen-Haus (1955-60) in Düsseldorf, das sie bereits in Scheiben dachten. Die geknickte Grundrissfigur in Münster folgte hieraus als Entwicklung und lies wiederum neue und variable Verbindungen zu. Zum benachbarten strengen Luftkreiskommando, das 1934/35 Ernst Sagebiel errichtete, stellte der dynamische Neubau einen wichtigen Widerpart dar.

Jede Menge Raum – in außergewöhnlicher Formgebung. Vorbei. So überragend die Qualitäten dieses Verwaltungsgebäudes auch gewesen sein mögen – am Ende reichten sie weder aus, den Bau zu schützen, noch ihn umzubauen. Den Denkmalpflegern war der 1960er-Jahre Bau nicht erstklassig genug, und dem Land NRW als Eigentümer die Schadstoffbelastung zu problematisch.

 

Auf Instandsetzung folgte Abriss

Bereits zwischen 1998 und 2001 investierte der Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW in eine Instandsetzung. Die Haustechnik wurde wie sämtliche Aluminiumfensterelemente erneuert. Auch wurde Asbest und PCB entfernt. Letztere Aufgabe schien angeblich unlösbar. In den Verfugungsmassen der Fassade zu den Stahlstützen und Zwischenwänden verblieben immer noch Restmengen, die nur mit großem Aufwand hätten saniert werden können. Dazu kam es nicht mehr. Der Eigentümer beschloss, das Gebäude gänzlich aufzugeben und stattdessen an anderer Stelle einen Neubau zu planen.

 

Neubau-Ideen ohne Bezug zum Vorgängerbau

Auch der Stadt kam dies zupass, dachte sie bereits daran, das Grundstück für einen Gesamtschulbau zu verwerten. Kauf, Abriss samt Neubau waren nun leicht zu organisieren. Die Variante, die unbelasteten Pavillons baulich zu integrieren, wurde von der Stadt Münster nicht ernsthaft verfolgt. Bereits während des Wettbewerbs begann ihr Abriss.

Eine vertane Chance. Denn ohne Mühe hätte ein Schulbauentwurf diese bereits vorhandenen hochwertig gebauten Pavillonbauten zum Ausgangspunkt eines modularen Entwurfs nehmen können. Auch wer beim Abriss den Rohbau der Scheibe mit ihren seriellen Öffnungen sah, wünschte sich, die Baustelle würde wieder nach vorne gebaut. Hin zu einem Projekt des Weiterbauens. Die variable Struktur hätte vieles zugelassen.

 

Ein Glücksfall – der ausgeblieben ist

Nun ist der Beton geschreddert. Es folgt ein rechtwinkliger zweigeschossiger Schulbaukomplex aus Holz, deren Charakter als filigran, leicht und luftig beschrieben wird – und natürlich nachhaltig. Ein Vorgängerbau spielt in diesen Rechnungen keine Rolle mehr. Die gebaute und gedankliche Konstruktion – die den Ort für nahezu ein halbes Jahrhundert prägte – bleibt unberücksichtigt. Mehr als schade. Die Zukunft fängt hier bereits mit einem Rückschritt an.

Das Experiment mit den Variablen dieses Ortes hätte der Architekturstadt Münster gut getan. Ein Pionierbau der Wirtschaftswunderzeit wäre zum Pionierbau in unserer Zeit geworden. Ein Glücksfall – der ausgeblieben ist.

 

Stefan Rethfeld

 

Text erschienen als Katalogbeitrag in:

Skulptur Projekte Münster 2017:

OFF OFD – Christian Odzuck, Koenig Books, London 2017

Zum Kunstprojekt: www.christianodzuck.de