Diözesanbibliothek Münster: Die Kunst der Fuge
Historische Ordnung als Maßstab: Der Schweizer Architekt Max Dudler hat in Münster die Diözesanbibliothek gebaut
9.12.2005
Süddeutsche Zeitung (2005)
Diözesanbibliothek Münster

Diözesanbibliothek Münster

Noch werden letzte Gehwegplatten gelegt, das Abstandsgrün gepflanzt. Im Stundentakt treffen jetzt die Transporter mit den Bücherkisten ein. Und gleich kommt noch der Bischof. Er wird sie segnen: die Diözesanbibliothek in Münster. Zum Ende des Jubiläumsjahres – das Bistum Münster feiert heuer sein 1200-jähriges Bestehen – geht damit für das Bistum ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Die Besonderheit der Aufgabe lag nicht nur darin, Raum für eine der größten theologischen Spezialbibliotheken in Deutschland zu schaffen, sondern darüber hinaus auch einen bedeutenden stadtgeschichtlichen Ort in Münster angemessen umzubauen.

Der Standort Überwasser-Viertel gilt als der älteste Siedlungsbereich außerhalb der alten Domburg. Bereits im Jahre 1040 wurde hier ein erstes Stiftsgebäude geweit; die Keimzelle für ein ganzes Viertel, in dem sich auch früh Kaufleute und Handwerker – in erster Linie Viehhändler – niederließen. Bis heute haftet dem Überwasser-Viertel der Name „Kuhviertel“ an.

Neue Durchblicke

Im 14. Jahrhundert wird die romanische Stiftskirche durch eine gotische dreischiffige Hallenkirche mit markantem Turm ersetzt: die heutige Überwasserkirche. Sie ist die erste Pfarrkirche der Stadt – und somit ein Ort für die Bürger. Weitere Stiftsgebäude in diesem mit der Zeit anwachsenden Ensemble – darunter der Kreuzgang, Wirtschafts- und Wohnräume – sind nicht öffentlich und durch eine große Immunitätsmauer geschützt. Die größte Erweiterung erfährt die Anlage Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Bau eines rechtwinklig zur Kirche liegenden neoromanischen Priesterseminargebäudes. Sprengbombem vernichten 1943 einzelne Gebäudeteile, alle Dächer werden in Asche gelegt, der Turm glüht aus.

In der Wiederaufbauzeit kann jedoch vieles gerettet und rekonstruiert werden. Vereinzelt werden fehlende Gebäudeteile durch Neubauten ergänzt. So errichtet der Architekt und Diözesanbaumeister Alfons Boklage Mitte der fünfziger Jahre einen sehenswerten Büroturm als nördliches Pendant zum Kirchturm.

In den letzten Jahren wächst der Handlungsbedarf: das Bischöfliche Priesterseminar muss saniert werden, das Generalvikariat benötigt mehr Platz für die Verwaltung – und nicht zuletzt möchte man sich einen Wunsch erfüllen: Die Bibliothek mit ihren rund 700 000 Bänden, darunter der bedeutende Bestand der Santini-Sammlung mit Kirchenmusik des 16. bis 19. Jahrhunderts, soll adäquat und sicher untergebracht werden.

Der Schweizer Architekt Max Dudler, durch zahlreiche Bauten im neuen Berlin bekannt und für seinen Reduktionswillen geachtet wie gefürchtet, kann sich 2002 gegen dreißig andere Architekturbüros in einem geladenen Wettbewerb durchsetzen. Seine Grundidee wird am deutlichsten im Stadtgrundriss. Er entscheidet sich dafür, das kirchliche Ensemble mit seiner rechtwinkligen Ordnung zu stärken und es so deutlich von der mittelalterlichen Stadt mit ihren krummen Gassen abzugrenzen.

 

Mehrdimensionales Fugenbild

Um dies zu erreichen, sichtet er zunächst den Bestand – und räumt auf. Was ohne Charakter ist, wird abgerissen: Nebengebäude, Zwischenbauten, auch größere Hauseinheiten an der Rosenstraße müssen weichen. Er verschafft sich damit Platz. Und er ist nun in der Lage, drei neue Baukörper einzufügen: zwei Bürokuben und einen langen Quader für die Bibliothek am Katthagen. Alle Gebäude – die drei neuen, wie auch das Kirchenschiff und das Priesterseminar – liegen nach dieser Operation streng rechtwinklig zueinander. Dudler setzt sie in ein präzises Verhältnis, weder gibt es Überschneidungen noch Berührungen. Durch diesen Kunstgriff erreicht er ein mehrdimensionales Fugenbild. Im Grundriss überrascht er den Besucher mit neuen Wegeverbindungen; es entstehen eine neue öffentliche Kreuz- und eine Bibliotheksgasse in dem einst ummauerten Distrikt. Auch in den Ansichten kann der Fußgänger neue Durchblicke erkunden: feine Luftfugen entlang der Gebäudekanten rahmen immer wieder den Kirch- oder den Büroturm, und Altstadtausschnitte erhalten ein klares Passepartout. Auch prominente Nachbarbauten wie der Rosenhof von Alfred Hensen (1926) oder die barocke Observantenkirche werden durch die Neugestaltung der „Diözesaninsel“ in ihrer städtebaulichen Wirkung klar gesteigert.

Das Koordinatennetz, welches Max Dudler über die Insel wirft, bestimmt das Außen wie das Innen der Gebäude. Dies ist besonders gut an den drei Kuben ablesbar: Für ihre gesamten 1082 Fenster verwendet der Architekt nur zwei, noch dazu fast identische Hochformate. Diesen regiden Ansatz – und hier tänzelt Dudler auf dem schmalen Grat zwischen Minimalismus und Banalität – erlebt der Betrachter beim Anblick der siebzig Meter langen Längsfassaden der Bibliothek. Ob vom Katthagen aus gesehen oder von der Bibliotheksgasse her betrachtet: Unweigerlich scheint der italienische Maler Giorgio de Chirico auf, der in seiner metaphysischen Malerei durch bühnenhafte, menschenleere Plätze beeindruckt. Dudlers Sandsteinkuben sind ohne Zweifel imstande, ähnliche Schlagschatten zu werfen.

In der Bibliothek verteilen sich im Erdgeschoss der allgemeine Katalogbereich sowie die Santini-Sammlung samt Ausstellungsraum und einem noblen Lesesaal für sechs Personen. Im Obergeschoss liegt der dreigeschossige, rund 200 Quadratmeter große, mit 40 Arbeitsplätzen ausgestattete Lesesaal. Zusammen mit den Regalmetern in zwei weiteren Obergeschossen sowie den beiden Unterschossen wird damit Platz für eine Million Bücher geschaffen.

Das neue Bauwerk des Bistums wird umstritten sein in Münster. Im Detail ist dies sicher berechtigt. Das Gesamtkonzept aber ist ein Gewinn. Durch den starken architektonischen Kontrast steigern sich Neubau und Altstadt gegenseitig. Den kirchlichen Segen wird er durch den Bischof heute bekommen, ob die Bürger es ihm gleichtun, bleibt abzuwarten.

 

Stefan Rethfeld

Zum Artikel: www.sueddeutsche.de