achtung: die Schweiz – eine offene Frage
Beitrag im Sammelband "Design ist unsichtbar - Lucius Burckhardt"
Cantz Verlag (1995)
Design ist unsichtbar - ein Sammelband für und von Lucius Burckhardt. Im Jahr 1995 wurde er vom Rat für Formgebung mit dem Bundespreis für Förderer des Designs ausgezeichnet.

Design ist unsichtbar - ein Sammelband für und von Lucius Burckhardt. Im Jahr 1995 wurde er vom Rat für Formgebung mit dem Bundespreis für Förderer des Designs ausgezeichnet.

Die große Frage des Städtebaus und der Architektur stellte Lucius Burckhardt schon in jungen Jahren: Wie wollen wir in Zukunft leben? Gab es doch in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre hinein in seiner Heimatstadt Basel kurz- und weitsichtige Pläne – beides half nicht – zum Neubau der Altstadt.

1949 sah der Großbasler Korrektionsplan vor, die Altstadt durch eine Entlastungsstraße folgenschwer zu teilen. In Zeiten sich stürmisch entwickelnder technischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums erlaubte der ungebremste Glaube an den Fortschritt keine Architekturkritik. Im Gegenteil, Innenhalten und Diskussion galten als Staatsverrat. Architektur und Städtebau durften nicht nachstehen – sie wurden auf fatale Weise als rein technische Angelegenheit begriffen.

 

Neue Entwurfsstrategie notwendig

Lucius Burckhardt und Markus Kutter – damals noch Studenten – alarmierte diese Entwicklung, setzen sich sich doch mit dem Prozeß des Bauens innerhalb der Gesellschaft auseinander. Sie schreiben den einzigen kritischen Artikel gegen die geplante Straße, greifen sogar zum Mittel eines Referendums, das sie jedoch verlieren. Sie fordern, auch soziologischen Belangen Rechnung zu tragen. Durch ihre Beschäftigung mit der Struktur und dem Verhalten der menschlichen Gesellschaft und ihrer Systeme halten sie eine neue Entwurfsstrategie für notwendig.

Ihr Resümee: Die Zukunft wurde bis jetzt nur mangelhaft geplant. Um eine Diskussion über mögliche und zukünftige städtische Lebensformen in Gang zu setzen, machen die beiden 1954 einen ungewöhnlichen Vorschlag: Anstelle der üblichen Landesausstellung soll 1964 – als Manifestation – eine moderne Stadt auf der grünen Wiese gebaut werden. Sie fordern, eine grundsätzlich neue Stadt zu denken, die Auskunft über die geistige Grundlage der Schweiz gibt, eine Formel für die Nation liefert.

 

Max Frisch als Berater

Sie zeigen ihr Manuskript Max Frisch, der zwar vom Inhalt begeistert ist, von der Form allerdings überhaupt nicht: „Dieses Buch liest kein Mensch, das ist so unmöglich geschrieben, das kann man nicht lesen, gebt mir das Buch.“

Frisch als prägnanter Formulierer und Zuspitzer schafft es, dem Text eine Sprache zu geben, die aufhorchen ließ: konkret, plakativ und polemisch. Schon der Titel der provokativ in rot gebundenen Broschüre erzeugt Aufmerksamkeit: „achtung: die Schweiz“.

Das kleine Buch löst in der konservativen, konformistischen und selbstzufriedenen Nachkriegsgesellschaft der Schweiz heftige Reaktionen aus: Nestbeschmutzer und Staatsfeinde, die Autoren also, sollen – wie in der NZZ zu lesen war – die Schweiz verlassen.

Auf der anderen Seite wird der Aufruf verstanden: Große Teile der Bevölkerung diskutieren wieder, oder zum erstenmal, über ihr Stadtverständnis.

 

Ein provokativer Titel – achtung: die Schweiz

Der Inhalt läßt sich verkürzt in folgenden Thesen darstellen:

– Architektur und Städtebau verlangen nach einem Leitbild einer Gesellschaftsform, das in die Zukunft weist

– nicht der Fachmann darf die Fragen stellen, sondern der Laie;

der Fachmann löst lediglich die Probleme

– neue Probleme erfordern neue Systeme

– Freiheit ist heute nur noch durch Planung zu retten

Die Reaktionen der Presse und der Öffentlichkeit – die Leser wurden durch einen Antwortcoupon zum Kommentieren animiert – dokumentieren und bewerten die Autoren in der folgenden Broschüre „die neue Stadt“. Inzwischen hat sich auch eine „Gesellschaft Neue Stadt“ gegründet, die den Vorschlag in die Tat umsetzen will. Ihre Motivation, wiederum eher einseitig technisch denn grundsätzlich, läßt Burckhardt, Kutter und Frisch schließlich die Flucht ergreifen. Die neue Stadt wird also nicht gebaut, jedoch ist das Bewußtsein der Öffentlichkeit durch „achtung: die Schweiz“ nachhaltig sensibilisiert worden.

 

1994: Max Frisch – Ausstellung in Berlin

Durch die Ausstellung „Max Frisch, Architekt“ im Juni 1994 in Berlin haben wir versucht, auf diese vierzig Jahre zurückliegenden Bemühungen hinzuweisen.

Wie aktuell und verblüffend zutreffend der Inhalt von „achtung: die Schweiz“ heute noch immer ist, läßt sich derzeit gut an der aktuellen Situation der Hauptstadtplanung in Berlin beobachten: Wieder fehlen zukunftsweisende Leitbilder, wieder wird versucht, neue Situationen und neue Probleme mit alten Werkzeugen und alten Systemen zu lösen. Wieder muß man sich einer Verwaltung überlassen, und der Fachmann löst schließlich, nur auf sich gestellt, die Probleme.

Es werden Bilder gebaut, die von einer mächtigen Verwaltung favorisiert werden. Diskussionen, die stattfinden, kleiden sich demokratisch, eröffnen jedoch keinen Raum der grundsätzlichen Alternativen. Das Klima ist, wie in „achtung: die Schweiz“ beschrieben wurde, geisttötend.

 

Die neue Stadt muß in einer alten entstehen

Sind, wenn die Ausgangssituationen sich so ähneln, auch gleiche Maßnahmen ratsam?

Vergleicht man das Vorhaben „achtung: die Schweiz“ mit der heutigen Lage, so kann es zwar inspirieren, doch nicht konkret Vorbild sein. Die Flucht auf die grüne Wiese wird auch heute nicht gelingen. Als Maßnahme oder Modell ist ein Plan nicht mehr zukunftstauglich. Dafür sind die Veränderungen zu vielschichtig und beziehungsreich. Die neue Stadt muß in einer alten entstehen.

Es geht, wie es die damals jungen Autoren formulierten, nicht um das Lösen von Aufgaben, sondern um den Umgang mit Problemen, um das Denken in Prozessen und nicht in Endzuständen. Wie endlich angenommene Endzustände sein können, zeigt Berlin auf verschiedenen Ebenen in seinem innersten Wesen.

Die Aufgabe ist herausfordernd, besteht jedoch der Anspruch, eine Metropole radikal zu modernisieren. Eine Stadt, deren ereignisreiche Geschichte und typische Heterogenität allein schon genug spannendes Potential für Architekturkonzepte bieten. Regierungszentrum, Hauptstadt, europäische Drehscheibe in Richtung Osten sind zudem zusätzliche Chancen, ihren großen Fundus zu bereichern.

 

Planungsfragen in der Öffentlichkeit diskutieren

Es ist notwendig, architektonische Fragen wieder mit Initiative in der Öffentlichkeit zu stellen. Für Diskussionen ist nicht die Verwaltung zuständig, sondern die Universitäten und eine Öffentlichkeit, die auch zugelassen und gefragt wird. Neue Verbindungen zwischen Industrie, Verwaltung, Universität und Öffentlichkeit schaffen ein Potential, das Identifikation und Beteiligung ermöglicht. Es reicht nicht aus, in Jurysitzungen hinter verschlossenen Türen über die geeignete Lebensform zu streiten. Die Debatte geht uns alle an: Wie wollen wir in Zukunft leben?

 

Stefan Rethfeld / Caspar Kemper

 

in: Rat für Formgebung / Hans Höger (Hg.): Lucius Burckhardt – Design ist unsichtbar, Cantz Verlag Ostfildern 1995, Seite 146-149 –

Erschienen anläßlich der Auszeichnung von Lucius Burckhardt mit dem Bundespreis für Förderer des Designs 1995 –

weitere Beiträge von: Alberto Abriani, Lucius Burckhardt, Paul-Armand Gette, Gisela Hillmann, Hans Höger, Harald Hullmann, Bernard Lassus, Diego Peverelli, Jean-Pierre Protzen, Dieter Rams, Günter Rexrodt, Markus Ritter, Ettore Sottsass jr.