Alles ausser Abriss!
Weiterbauen als Chance in Nordrhein-Westfalen
Baunetzwoche Revisited
02.06.2022
BauNetzWoche #600 (2022)
BauNetz Woche - Jubiläumsausgabe (2022)

BauNetz Woche - Jubiläumsausgabe (2022)

Der Blick auf die Architektur der 1960er und 1970er Jahre hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten substantiell gewandelt. Gerade die junge Generation tauscht sich über die formstarken Bauten in den Sozialen Medien vielfältig aus. Dabei entdecken sie nicht nur Bekanntes, sondern auch Alltägliches. Besonders in Nordrhein-Westfalen lassen sich viele Bauwerke der Nachkriegsmoderne finden. Sie bieten ein enormes Potenzial zum Weiterbauen.

 

Noch immer wird in vielen Städten zu viel abgerissen: von Bauwerken der Gründerzeit und der 1920er Jahre über Architekturen des Wiederaufbaus und der Boomjahre bis hin zu Objekten aus den 1990er Jahren. In jeder Stadt könnte es Touren von Abrissort zu Abrissort geben. Die nachfolgenden Generationen werden staunen, was in unserer Gegenwart alles Platz machen musste – für Neubauten. Einzelne Häuser, ganze Straßenzüge, sogar Stadtviertel sind verschwunden. Auf Grund hoher Bodenpreise und Renditeerwartungen hat es erhaltenswerte und sogar Denkmalsubstanz schwer, sich heute zu behaupten. Man könnte es Stadtwandel nennen und für gegeben halten. Doch die energetische wie kulturelle Bilanz unserer Zeit rutscht deutlich ins Negative, da vermehrt konzept- und kontextlose Neubauten folgen.

Umso notwendiger erscheint eine entsprechende Forschung, die den Bestand nachhaltig untersucht, sichert und der Öffentlichkeit bewusst macht. Welche Häuser gehören auf eine rote Liste, und welche sind von der Denkmalpflege zu prüfen? Die Denkmalpflege in den Fachämtern und bei den Kommunen und Kreisen kann hier ein zentraler Akteur sein, benötigt jedoch aufgrund des schieren Umfangs Verstärkung durch engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine und Initiativen, Hochschulen, Architektinnen und Stadtplaner sowie die Medien. Doch neben dem denkmalwerten Bestand gilt es auch alltägliche Bestandsbauten in den Blick zu nehmen. Selbst ohne Schutzsiegel nehmen sie nicht selten eine wichtige Stadtbildfunktion für einen Platz, eine Straße oder einen Stadteingang wahr – und sind deshalb zu erhalten.

Das Unbehagen gegenüber Abrissen ist in der Bevölkerung letztlich tief verankert. So nährt sich bekanntlich auch der moderne Denkmalschutz von diesem Denken und erlebte 1975 im Europäischen Jahr des Denkmalschutzes „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ eine Zeitenwende. Viele Stadtbewohner*innen nahmen das Schicksal ihrer Häuser selbst in die Hand und retteten diese durch ihr Engagement. Eine Pointe der Geschichte ist, dass die „verdrängenden“ Neubauten dieser Zeit nun selbst zur Prüfschicht für die Denkmalpflege wurden. Die Bauten der 1960er und 1970er stellen eine der größten Herausforderungen für die Denkmalpflege dar, auch deshalb, weil eine Bewertung nur überregional durch die Fachämter erfolgen kann.

Wer zu schnell urteilt, der übersieht leicht den ungeheuren Reichtum, den auch die Bauten der 1960er bis 1970er Jahre bieten können. Besonders die kleinen, mittleren und größeren Städte in Nordrhein-Westfalen verfügen kriegsbedingt über einen großen Bestand aus den Boom-Jahrzehnten. Wohnhäuser und -anlagen, Schulen und Universitäten, Theater, Museen und Kirchen, Rathäuser und Bürobauten sowie Geschäfts- und Warenhäuser wurden gebaut.

In den letzten 20 Jahren wurde diese Bauschicht zunehmend erforscht. Frühe Schriften wie Architektur und Städtebau der sechziger Jahre von Ralf Lange aus dem Jahr 2003, Symposien wie „Bauten und Anlagen der 1960er und 1970er Jahre – ein ungeliebtes Erbe?“ (haus der architektur köln, 2009) oder „Denkmalpflege und die Moderne 1960+“ (Landschaftsverband Westfalen-Lippe LWL in Marl, 2016) sowie Ausstellungen wie „SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster“ (Deutsches Architekturmuseum in Frankfurt am Main, 2017) und umfangreiche Vermittlungsprojekte wie „Big Beautiful Buildings“ im Europäischen Kulturerbejahr 2018 wurden zu wichtigen Etappen einer neuen Forscher*innengeneration. Architekten wie Gottfried Böhm, Harald Deilmann, Dissing+Weitling, Bruno Lambart, Ludwig Leo, Dieter Oesterlen, Friedrich Mebes, Hans Scharoun, Paul Schneider-Esleben oder Will Schwarz wurden durch Recherchen neu- und wiederentdeckt – auch dank verschiedener Initiativen der Fachämter und des 2018 eröffneten Baukunstarchivs NRW in Dortmund und des 2020 gegründeten Vereins Baukultur Nordrhein-Westfalen, der aus der Zusammenlegung der Vereine StadtBauKultur NRW und M:AI – Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW entstand.

Wenn öffentliche wie private Eigentümer*innen und Architekt*innen, Denkmalpflege, Politik und Verwaltung sowie engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammenwirken, können ungewöhnliche Erfolge gelingen. So wurde 2013 mit Hilfe der Wüstenrot Stiftung das Geschwister-Scholl-Gymnasium von Hans Scharoun in Lünen (1956–1962) baulich wie energetisch durch Spital-Frenking + Schwarz (Lüdinghausen, Dortmund) saniert. 2015/16 wurde das Museum Wilhelm Morgner von Rainer Schell (1962) in Soest von Oliver Silge (leistungsphase.architekturbüro, Nordkirchen) instand gesetzt. Und in Dortmund verwandelte das Büro Eller + Eller in den Jahren 2011–14 die ehemalige WestLB von Harald Deilmann (1975–78) in ein Gesundheitshaus – und ließ es damit vollkommen neu aufleben. Auch die benachbarte ehemalige Dresdner Bank von Harald Deilmann (1975–78) wurde saniert – und wird heute von der Stadt Dortmund unter anderem als Volkshochschule genutzt.

Wenn eine Botschaft der letzten zwanzig Jahren deutlich wurde, dann das Gebot des Erhaltens und Weiterbauens. So forderte es auch der BDA in seinem Positionspapier „Das Haus der Erde“ vor drei Jahren: Wir brauchen eine neue Kultur des Pflegens und Reparierens. Die neue Architektur? Sie muss die Potentiale des Vorhandenen neu denken.

Vollständiger Text (S. 20-23): www.baunetzwoche.de